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Caspar, Melchior und Balthasar galten als Magier, Sternendeuter, reiche Könige oder Philosophen. Ihre kostbaren Geschenke deuteten auf die künftige Bestimmung Christi: Königtum (Gold), Gottheit (Weihrauch) und Passionsopfer (Myrrhen). Meistens tragen die Heiligen orientalische Kleidung. König Caspar ist in der Regel als Mohr dargestellt.

Rätselhaft ist ihr Gefolge. Manchmal sind Affen darunter. Es sind Sinnbilder des Teufels und der Lasterhaftigkeit. Weiße Hunde konnten Glauben und Treue bezeichnen, struppige Hunde den Unglauben. Sicher kein Zufall, dass Affen und Hunde häufig auch Moriskentänzer begleiten – etwa am Goldenen Dachl in Innsbruck.

Es gab noch mehr dunkelhäutige Heilige. Mauritius war ein christlicher ägyptischer Märtyrer. Aus seinem Namen leitet sich das alte Wort "Mohr" ab (lateinisch "Maurus" heißt "Nordafrikaner"). Er war Schutzpatron der Ritter und Patron Burgunds. Als Reichspatron der Salierkaiser war Mauritius auch im deutschen Raum besonders populär.

Höfische Kreise orientierten sich am verfeinerten arabischen Lebensstil. Gleichzeitig verdammten christliche Theologen den Islam als Religion der hemmungslosen Genusssucht und der Gewalt. Der Geschmack des Verbotenen ließ aber alles Orientalische umso attraktiver erscheinen.

Das zwiespältige Islambild spiegelte sich in der christlichen Kunst. Propheten mit Turbanen, Priester mit bizarren Mützen, Könige mit Kamelen und dunkelhäutige Magier - eine bunte Karawane zieht über Altarbilder und profanes Bildwerk. Edle Mohren und Könige stehen dort neben dunkelhäutigen Schergen und verschlagenen Turbanträgern.

Die Heiligen Drei Könige vertraten aus abendländischer Sicht die positive Seite der orientalischen Hochkultur. Sie wurde noch immer für ihren sagenhaften Reichtum und ihren verfeinerten Lebensstil bewundert.

Spanische Christen flohen in benachbarten Länder und exportierten ihre maurisch gefärbte Kultur. Jakobspilger aus ganz Europa deckten sich in Nordspanien mit arabischen Waren ein. Kreuzfahrer kehrten aus dem Heiligen Land mit orientalischen Gütern in ihre Heimat zurück.

Die Kreuzzüge brachten keinen dauerhaften Erfolg. Durch militärische Erfolge in Spanien überwand aber das christliche Abendland sein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber der islamischen Zivilisation. Europäische Christen waren von nun an von ihrer religiösen, intellektuellen und militärischen Überlegenheit überzeugt.

Die islamische Welt faszinierte zwar weiterhin, jedoch weniger durch Hochkultur und Wissenschaft, sondern mehr durch sagenhaft exotisch-erotische Reize. Der Okzident erblickte im Orient das fremdartige Gegenbild, das eine ebenso verlockende wie bedrohliche Gestalt annehmen konnte.

Der christliche Westen war dem islamischen Orient zwiespältig verbunden. Im frühen Mittalalter waren arabische Muslime Träger der überlegenen Kultur. Sie bewahrten die antiken Wissenschaften, entwickelten sie fort und vermittelten ihr Wissen an das christliche Europa. In Spanien lebten Mauren, Christen und Juden über 300 Jahre friedlich zusammen.

Italienische Kaufleute aus Venedig, Genua, Pisa und weitere Stadtrepubliken trieben lebhaften Handel mit der arabischen Welt. Über die Alpen kamen Gewürze, Textilien, Färbemittel und andere exotische Waren nach Bayern und weiter nach Mittel- und Nordeuropa.

Mit Beginn der Kreuzzüge ins Heilige Land und der christlichen Rückeroberung Spaniens verschärfte sich das Verhältnis zur muslimischen Welt. Die kriegerische Expansion förderte aber gleichzeitig die Verbreitung von orientalischem Kulturgut.

Kunstvolle Fremdenfeindlichkeit? Nicht auszuschließen. Doch „Pharisäer“, „Scherge“ oder „Prophet“ verkörperten allgemeine Wesenstypen, keine modernen Stereotypen. Heilige konnten auch dunkelhäutig sein: König Kaspar und Märtyrer Mauritius standen für den „edlen Mohren“.

Im 15. Jahrhundert tritt fremdländisches Volk auch auf bayerischen Altären auf. Turban tragende Pharisäer verspotten den dornengekrönten Jesus, phantastisch gekleidete Schergen geisseln mit sadistischer Lust. Es scheint, das fromme Publikum verlangte nach Spektakel - ebenso in Leid wie Grausamkeit.

Fürsten herrschen international, Kaufleute handeln global. Und auch die Kunst greift im späten Mittelalter über die Grenzen Europas hinaus. Ob im Edlen, Weisen oder Bösen: Der Orient ist das Ideal, das abendländischen Künstlern ein reiches Repertoire zur Bebilderung religiöser und weltlicher Themen bietet.

Auch die bayerischen Herzöge übten sich im „burgundischen Schreiten“. Münchner Adelige und Bürger kleideten sich extravagant. Knappe Hosen, tiefe Ausschnitte, lange Schnabelschuhe: Besonders junge Männer trieben die Auswüchse der Mode auf die Spitze.

Der burgundische Hof diktierte Etikette und Mode in Europa. Über alle Grenzen hinweg teilte der Hochadel die Lust am Luxus. Höflinge kleideten sich mit übertriebenem Pomp und bewegten sich mit gezierter Gespreiztheit. Reiche Geschäftsleute zogen nach und entdeckten das feine Leben.

Die Herzöge von Burgund gehörten im 15. Jahrhundert zu den reichsten Fürsten Europas. In den niederländischen und französischen Landesteilen blühten Handel und Gewerbe. Wirtschaft und Staat funktionierten mit moderner Effizienz. Doch der Adel kultivierte vergangenes Rittertum.

Von allen seinen Generationsgenossen scheint Erasmus Grasser die Errungenschaften des berühmten Niederländers am genauesten studiert zu haben. Heilige, Propheten und Moriskentänzer – Grasser lehrte seinen Figuren die verschränkte Bewegung.

Nikolaus Gerhaert gab der Skulptur eine neuartige Räumlichkeit. Körper schrauben sich um ihre eigene Achse empor und wirken lebendig. Figuren posieren im verschränkten Schritt: das linke Bein gestreckt, den Fuß rechtwinklig vor das rechte Bein gestellt.

Der niederländische Bildhauer Nikolaus Gerhaert von Leiden (um 1430 bis 1473) inspirierte auf seiner Wanderschaft Künstler in ganz Europa. In Bayern schuf er den Hochaltar der Nördlinger Kirche St. Georg. Neuartig räumlich, unnachahmlich elegant und dabei dramatisch bewegt: Seine Skulptur ergriff die Zeitgenossen ganz unmittelbar.

Jan Polack war der erfolgreichste Münchner Maler seiner Zeit. Über seine Person ist wenig bekannt. Zahlreich sind die Werke, die ihm zugeschrieben werden. Doch der Meister hat kein einziges Bild alleine gemalt. Mehrere Malerhände teilten sich die Arbeit.

Polack organisierte den Betrieb, entwickelte das künstlerische Konzept und achtete auf einheitliche Qualität. Das fertige Produkt musste nicht die Handschrift des Meisters, sondern die Merkmale der Werkstatt tragen. Nicht das einzelne Bild zählte, sondern die große Serie.

Typisch ist an Polacks Kunst die starke Typisierung von Motiven und Personen. Seine Werkstatt ist wahrscheinlich das eindrucksvollste Beispiel eines durchorganisierten Kunstbetriebes. Dank rationeller Arbeitsweise konnte Polack in kurzer Zeit Werke für jeden Zweck in gehobener Qualtät und zu niedrigen Preisen liefern.

Für wenige Bildwerke ist Erasmus Grassers Urheberschaft eindeutig durch Quellen belegt. Nur ein Stück, der Aresinger-Epitaph in St. Peter, ist von seiner Hand signiert. Zahlreiche Skulpturen, früher als Werke Grassers bekannt, gelten heute wieder als ungeklärt.

Zu Beginn seiner Karriere verfügte Erasmus Grasser kaum über eine größere Werkstatt und Gehilfen. Die Moriskentänzer fertigte er mit Sicherheit noch von eigener Hand. Mit wachsendem Erfolg stieg die Betriebsgröße. Bei größeren Aufträgen konzentrierte sich der Meister auf die künstlerischer Leitung und delegierte die Ausführung.

Manche Werke ragen durch originelle Bildideen, außergewöhnlichen Ausdruck oder virtuose Technik heraus. Die erhaltene Sitzfigur des Heiligen Petrus stammt vermutlich von Grassers Hand. Andere Werke wie die Prophetenbüsten des Chorgestühls der Münchner Frauenkirche entstammen wahrscheinlich einer Werkstattserie.

Das Geschäft mit der Kooperation blühte in München. Die Bildhauerwerkstatt des „Blutenburger Meisters“ schuf zusammen mit Jan Polacks Maleratelier den Weihenstephaner Hochaltar. Gleichzeitig stellten sie die Ausstattung der Schlosskirche Blutenburg her.

Grassers und Polacks Werkstatt sicherten sich die lukrativsten Aufträge in München und Umgebung. Es war eine geschäftliche Zweckbeziehung. Doch auch künstlerisch lagen die beiden Meister auf der gleichen Welle. Dies garantierte ihren großen Erfolg.

Größtes Gemeinschaftsprojekt war der Hochaltar für St. Peter. Er umfasste mindestens zwölf große Bildtafeln und ein umfangreiches Skulpturenprogramm. Grasser und Polack teilten sich auch Teile der Ausstattung von St. Wolfgang in Pipping (um 1480). Gleichzeitig aber voneinander getrennt arbeiteten beide Werkstätten in Schliersee und Ilmmünster.

Maler und Bildhauer waren in Zünften organisiert. Strenge Regeln setzten der unternehmerischen Freiheit Grenzen. Marktbeherrschende Großbetriebe waren nicht erwünscht. Maler durften nur einen Bildhauergesellen beschäftigen, Bildhauer nur einen Malergesellen.

Waren große Altarwerke mit umfangreichem Bild- und Skulpurenprogramm gefordert, durften Maler- und Bildhauerwerkstätten Arbeitsgemeinschaften bilden. Beide Seiten profitierten von der Zusammenarbeit – unternehmerisch und künstlerisch.

Grafik, Malerei und Skulptur arbeiteten nach vergleichbaren Gestaltungsprinzipien. Die Kunstdisziplinen bedienten sich gleicher Motive und ähnlicher Bildrhetorik. Vorbilder aus der Druckgrafik waren weit verbreitet und dienten als Vorlagen für Gemälde und Skulpturen. In farbig gefassten Reliefs gingen Malerei und Skulptur fließend ineinander über.

Mohr, Bauer, Jüngling - manche Münchner Moriskentänzer treten auch in Innsbruck auf. Am „Goldenen Dachl“ geht es viel wilder zu. Die Tänzer sind extrem verrenkt, ihre Gesichter verzerrt. Grassers Figuren wirken dagegen edel, ihre Derbheit nur gespielt.

Innsbruck, um 1494: Maximilian I. ließ seinen Residenzbalkon mit einem steinernen Moriskentanz schmücken. Der König kannte Erasmus Grassers Moriskenfiguren aus München. Doch den Auftrag für das „Goldene Dachl“ erhielt ein Innsbrucker Bildhauer. Reichte Grassers Ruhm nicht bis an Maximilians Hof?

Erasmus Grassers Ruf war nicht auf München beschränkt. Doch außerhalb Altbayerns war die Konkurrenz groß. In reichen Städten wie Augsburg, Ulm, Nürnberg, Würzburg oder Salzburg beherrschten hochklassige einheimische Künstler wie Michael Erhart, Veit Stoß oder Tilman Riemenschneider den Markt.

Ähnlich wie Grasser bildete auch Jan Polack einprägsame Markenzeichen aus. Er malt Kreuzigungen und Martyrien detailreich aus. Figuren verrenken grotesk ihre Glieder. Schergen und Soldaten ziehen abstoßende Grimassen. Mit sadistischer Lust verrichten sie ihr grausames Werk.

Der Maler Jan Polack hatte viel mit Erasmus Grasser gemeinsam. Beide kamen von auswärts und setzten sich in München durch. Sie arbeiteten mehrfach zusammen, denn ihre Kunstauffassung stimmte überein. Beide stellten starken Ausdruck und klare Handlung vor naturgetreue Darstellung.

Trotz seiner führenden Stellung - nicht immer musste es Grasser sein. In der Schlosskirche Blutenburg kam ein anonymer Konkurrent zum Zug. Die zwölf Apostel sind perfekt geschnitzt. Bei aller Eleganz wirken die Figuren jedoch stilisiert und ausdrucksarm.

Erasmus Grassers Vielseitigkeit war unerreicht. Wenn nötig, übertrug er Motive aus der Druckgrafik in Bildhauerei. Doch nur wenige Werke reichten später noch an die Qualität der Moriskentänzer heran. Es scheint, als erledigte der Meister nur noch ausgewählte Aufträge mit eigener Hand.

Erasmus Grasser beschäftigte in seiner Werkstatt keine Maler. Waren bei großen Altären auch Tafelbilder gefordert, kooperierte er mit einheimischen Meistern wie Jan Polack. Ob Bildhauer oder Maler – wer die künstlerische Leitung in solchen Arbeitsgemeinschaften hatte, ist nicht bekannt.

Künstlerische Ökonomie zahlte sich schon damals aus. Bei Großaufträgen bewies die Grasser-Werkstatt hohe Leistungskraft. Ob Altarwerke und Chorgestühl: Grasser und Gesellen schnitzen Evangelisten und Propheten in kurzer Zeit und großer Zahl. Häufig standen dafür die Moriskentänzer Modell.

Erasmus Grasser übernahm vom Niederländer Nikolaus von Leiden das Prinzip der verschränkten Bewegung. Von allen bayerischen Bildhauern verwendete er es am konsequentesten. Sogar sein thronender Petrus streckt ein Bein nach vorne, den Fuß geziert zur Seite gedreht.

Grassers Werkstatt arbeitete mit einem festen Repertoire von Typen und Formen. Jede Figur ist einprägsam mit drastischen Mitteln charakterisiert. Mimik und Gestik sind stets ausdrucksstark. Figurentypen wiederholen sich. Manche Moriskentänzer wirken wie Verwandte von Grassers Heiligen.

Gewänder bilden scharfe Falten, Säume sind schwungvoll bewegt. In jedem Detail spiegelt sich der Charakter ihrer Täger. Typisch die Physiognomie: Die Nase ist meist kräftig entwickelt, das Kinn nach vorne geschoben. Die Oberlippe ist schmal, der Adamsapfel stark betont. Falten graben sich tief ins Gesicht. Alle Figuren haben auffallend lebhafte Augen.

Einheimische und zugereiste Künstler bewarben sich in München um die lukrativen Aufträge von Herzoghaus, Kirche und Bürgerschaft. Um 1510 arbeiteten in der Stadt etwa sieben Bildschnitzer. Die große Konkurrenz erforderte geschicktes Marktverhalten. Jeder Künstler entwickelte einprägsame Markenzeichen.

Unterschiede der künstlerischen Handschrift zeigten sich vor allem in Körperhaltung, Pysiognomie und Ausstattung der Figuren. Aufwändig gestaltete Gewänder verliehen den Figuren Würde und Zier. Der Schwung der Falten steigerte den Ausdruck. Gold und Farbe veredelten die Skulptur und erhöhten ihre plastische Wirkung.

Der anonyme Münchner Meister der Blutenburger Apostel schuf wohl proportionierte, feingliedrige Figuren mit milden Gesichtern. Sie waren geeignet, einem intimen Kirchenraum einen zurückhaltend vornehmen Rahmen zu verleihen. Waren hingegen Figuren mit markantem Ausdruck gefragt, die auch aus größerer Distanz noch wirken mussten, wandten sich die Auftraggeber vermutlich eher an Eramus Grasser.

Herzöge und Bürgerschaft finanzierten gemeinsam die neue Frauenkirche. Es war das bis dahin größte Münchner Bauvorhaben. Nach nur zwanzig Jahren Bauzeit wurde die monumentale Kirche 1494 geweiht. Der Innenraum bot reichlich Platz für Repräsentation - für bürgerliche Zunftkapellen ebenso wie für das wittelsbachisch-kaiserliche Grabmal Ludwigs des Bayern.

Die Betriebe der Münchner Meister waren viele Jahre ausgelastet. Erasmus Grasser stattete 1477-1480 das neue Tanzhaus aus. Zwanzig Jahre später schnitzte seine Werkstatt für das Chorgestühl der neuen Frauenkirche Heerscharen von Propheten und Heiligenfiguren. Gleichzeitig fertigte sie das Figurenprogramm für den Hochaltar der Peterskirche.

Bei Bedarf engagierten die Auftraggeber auswärtige Künstler. Die Deckplatte für das Kaisergrabmal Ludwigs des Bayern schuf ein fremder Meister. Auch ältere Werke kamen wieder zu Ehren: Den Hochaltar für die Frauenkirche hatte der Münchner Gabriel Angler fünfzig Jahre zuvor gemalt.

Bayerns Herzöge strebten im 14. und 15. Jahrhundert nach europäischer Geltung. Neue Städte wurden gegründet. Die Kunst boomte. Kaufleute finanzierten große Kirchenbauten und kostbare Altarwerke.

München entwickelte sich spät, aber dynamischer als andere bayerische Städte. Frauenkirche, dreizehn kleinere Kirchen, ein neues Rat- und Tanzhaus, zwei neue Schlösser: Herzöge und Bürger förderten die Stadt nach Kräften.

Architekten, Maler und Bildhauer erhielten reichlich Arbeit. Kirchen wurden prachtvoll ausgestattet. Flügelaltäre trugen zahlreichen Bildtafeln, Figuren und vergoldetes Schnitzwerk. Bürger stifteten Kapellen und private Andachtsbilder. Künstler kamen zu Wohlstand und Ansehen.

Erasmus Grassers Figuren trugen eine markante Handschrift. Bestimmte Typen, Gesten und Gesichter waren dem Münchner Publikum bald vertraut. Lange Nasen, ausdruckvolle Augen und fliegende Haarlocken wurden zu Markenzeichen der Grasser-Werkstatt.

Auch in München hatten sich die Ansprüche an die Kunst verändert. Lebensnähe, Räumlichkeit, Geistigkeit und Gefühl – was immer Auftraggeber verlangten, Grassers Arbeiten trafen den Geschmack am besten. Schnell, zuverlässig und in hoher Qualität.

Das Publikum des Spätmittelalters betrachtete Kunstwerke nicht distanziert. Die Menschen versetzten sich in die Figuren hinein und fühlten das Geschehen mit. Personen wirkten jetzt lebensecht, Räume und Hintergründe täuschend real. Künstler in Italien, Flandern oder Prag hatten um die Mitte des 15. Jahrhunderts die geeignete Bildsprache entwickelt.

Grasser war gefragt, wenn anspruchsvolle Aufgaben nach originellen Lösungen verlangten. Wie kein anderer Münchner Bildhauer konnte er gedankliche Tiefe mit glaubhaftem Ausdruck verbinden. Mit dem Wandepitaph für den Dekan Dr. Ulrich Aresinger in der Pfarrkirche St. Peter formte er ein geistvolles theologisches Programm in anschauliche Bilder.

Als Grasser 1480 die Figuren der Moriskentänzer übergab, hatte er für München einen neuen Maßstab gesetzt. Seine Schnitzwerke waren in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Solch körperliche Präsenz, solch lebensechte Beweglichkeit, solch packender Ausdruck waren hier bislangnicht zu sehen.

München war keine künstlerische Provinz, doch es mangelte an Künstlern mit überregionaler Ausstrahlung. Grasser startete nach seiner Ankunft furios. Wappen, Sonne und Mond für das neue Tanzhaus erregten Aufmerksamkeit. Dieser Künstler gab sich nicht mit schlichten Lösungen zufrieden.

Erasmus Grasser war handwerklich perfekt und künstlerisch auf der Höhe der Zeit. Als Zugereister war er kaum an einheimische Traditionen gebunden. Besser als seine Münchner Konkurrenten verstand er, aus Holz oder Stein körperlich bewegte und emotional bewegende Bildwerke zu schaffen.

Trotz aller Widerstände - Erasmus Grasser war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Als er in München ankam, vergaben Herzöge und Bürgerschaft zahlreiche anspruchsvolle Kunstaufträge. Ihr Anspruch wies über das bisherige Niveau weit hinaus. Mit althergebrachten Mitteln war das nicht zu schaffen.

Wie lässt sich der erstaunliche Erfolg des jungen Außenseiters erklären? Vieles sprach gegen eine schnelle Karriere Grassers. Er stieß München auf einen etablierten Kunstbetrieb, der unliebsame Konkurrenz von außen fernhalten wollte.

Als der Betrieb Skuplturenwerkstatt gesichert war, begann Erasmus Grasser eine zweite Karriere als Architekt und Ingenieur. 1487 plante er den Neubau des Klosters Rorschach für die Benediktinerabtei St. Gallen. 1492 erweiterte er die Stadtpfarrkirche in Schwaz (Tirol) und konstruierte eine neue Turmuhr.

1498–1512 sanierte er die herzoglich-bayerische Saline Reichenhall. In der Münchner Frauenkirche wurde um 1500 eine astronomische Uhr mit beweglichen Figuren aufgestellt. Vieles spricht dafür, dass auch sie von Grasser stammt.

Mit dem beruflichen Aufstieg gingen gesellschaftliche Anerkennung und Wohlstand einher. Seit 1480 stand Erasmus Grasser mehrfach der Zunft St. Lukas vor. 1507 stiftete ihm Herzog Albrecht IV. für Sparsamkeit beim Salinenbau eine jährliche Leibrente von 80 Gulden, freies Hofkleid und Freitisch bei Hof. 1508 war er reichster Künstler Münchens. Von 1512 bis zu seinem Tod 1518 war Erasmus Grasser Mitglied des „Äußeren Rates“, dem obersten politischen Gremium der Stadt München.

Für größere Aufträge benötigte Grasser eine größere Werkstatt. Den Heilig-Kreuz-Altar für die Pfarrkirche in München-Ramersdorf fertigte Grasser 1482 gemeinsam mit mehreren Gehilfen an.

Um 1490 oder später schuf das Grasser-Atelier ein umfangreiches Skulpturenprogramm für den neuen Hochaltar der Pfarrkirche St. Peter. Die Sitzfigur des hl. Petrus hat sich als einziges Stück erhalten.

Um 1502 war das Chorgestühl für die neue Münchner Frauenkirche fertiggestellt. Es enthielt mindestens 170 figürliche Teile. Einige der erhaltenen Büsten deuten auf Serienfertigung in einem rationell organisierten Betrieb.

Kaum hatte sich Grasser etabliert, erhielt er mit der Ausstattung des Tanzhauses des Münchner Rathauses den bedeutendsten Bildhauer-Auftrag der Stadt. Schon 1477 hatte er elf Wappen, Sonne und Mond vollendet. Laut Stadtkammerrechnung wurde er am 14. August 1480 für die restlichen Skulpturen bezahlt: 16 “pilden maruschka tanntz”, Figuren für einen Moriskentanz.

Erasmus Grasser festigte in den folgenden Jahren seinen Ruf als erstklassiger Bildhauer. 1480 schnitzte er Standbilder für die herzogliche Kirche in München-Pipping. 1482 ist das Wandepitaph (Gedenkstein) für Dekan Dr. Ulrich Aresinger in der Pfarrkirche St. Peter in München vollendet. Es ist sein einziges signiertes Werk.

Nur wenige Dokumente bezeugen den erstaunlichen Lebensweg Erasmus Grassers. Ob er vielleicht über seine Familie mit dem Bildhauerhandwerk verbunden war, ist nicht bekannt. Es scheint, dass er seine Karriere aus eigener Kraft erarbeitet hat.

Er wurde vermutlich um 1450 in Schmidmühlen bei Burglengenfeld in der Oberpfalz geboren. Es kommen nur wenige Orte in der Umgebung in Frage, wo Bauhandwerk und Bildhauerei auf hohem Niveau zu erlernen waren. Vielleicht ging er an die Dombauhütte in Regensburg. Seine Lehr- und Wanderjahre hatte er wohl bis 1473 abgeschlossen.

1475 wird Erasmus Grassers erstmals urkundlich erwähnt. Es ist die vergebliche Eingabe der Münchner Meister an den Rat der Stadt, um seine Zunftaufnahme zu verhindern. Zwei Jahre später war er bereits selbständiger Meister und konnte heiraten.

In einer Urkunde von 1507 wird Grasser erstmals als “paumeister” bezeichnet. Schon früher bewies er sich als Architekt von Rang: Seit 1487 plante er den Neubau des Benediktinerklosters von St. Gallen in Rorschach. 1490 erweiterte er die Kirche der reichen Silberbergwerksstadt Schwaz in Tirol. Bis zu seinem Tod leitete er die Sanierung der Saline Reichenhall, eine der wichtigsten Einnahmequellen der bayerischen Herzöge.

Um 1473 war seine Wanderzeit beendet. Nur zwei Jahre später erhielt er den prestigeträchtigsten Auftrag, den die Stadt München zu vergeben hatte: das Bildprogramm für das Münchner Tanzhaus (1477) bis 1480). Er löste die anspruchsvolle Aufgabe souverän. Stadt, Klerus und Adel schätzten ihn seither als Spezialist für das Neuartige, Schwierige und Ausgefallene.

Über seine Ausbildung wissen wir wenig. Ging er zur Lehre nach Regensburg? An der Dombauhütte könnte er neben Skulptur auch Baukunst und Mechanik erlernt haben. Ähnlich wie sein Zeitgenosse Leonardo da Vinci war Erasmus Grasser ein Multitalent: Bildhauer, Architekt, Ingenieur und Maschinenkonstrukteur in einer Person.

Nicht nur Grassers Arbeiten, auch seine Preise waren überregionale Spitze. So betrug das Honorar für die ursprünglich 16 Münchner Moriskentänzer 150 Pfund - dies entsprach damals dem Gegenwert von 50 Kühen oder 1042 Schafen.

Der Widerstand der Münchner Zunftkollegen war vergeblich: 1477 erhielt Erasmus Grasser den Meistertitel. Mehrfach wurde er als Zunftvorsteher gewählt. 1490 zählte er als einziger Künstler zu den 30 wohlhabendsten Bürgern Münchens. Ab 1512 gehörte er dem Äußeren Rat an. Es war das höchste politische Amt, das ein Mitglied einer Handwerkszunft erreichen konnte.

Wer war der geniale Ruhestörer? Wenig ist überliefert: geboren wohl um 1450 im Marktflecken Schmidmühlen in der Oberpfalz, gestorben 1518 in München. Über seine Eltern wissen wir nichts. Um das Jahr 1477 heiratete er Dorothea Kaltenprunnerin aus vermögendem Haus. Möglicherweise waren der Maler Hans und ein gewisser Stephan Grasser seine Söhne.

Und wirklich: Grasser trat in der bayerischen Metropole bemerkenswert selbstbewusst auf. Er begehrte beim Rat nicht nur die Anerkennung als Zunftmeister, sondern auch die Befreiung von Steuer und Wachtgeld - ein Privileg für hervorragende Künstler. Das Zunft-Establishment sorgte sich um seine führende Stellung - wie sich zeigen sollte, zu Recht.

Sein Charakter war wohl umstritten, sein fachliches Können nicht: Selbst die feindseligen Münchner Zunftmeister mussten in ihrer Klage anerkennen, dass ihnen mit dem jungen Talent ein zumindest gleichrangiger Künstler gegenüberstand: „... Und wir doch wol lewt under uns haben, dy von pillden und massen zwvoran alls vil wissen als er (...)“.

Münchner Kunstskandal anno 1475: Die Zunft St. Lukas für Maler, Schnitzer, Seidennäher und Glaser wendet sich mit einer Petition an den Rat der Stadt, um dem zugezogenen Bildhauer-Gesellen Erasmus Grasser die Aufnahme in ihren exklusiven Kreis zu verweigern - er sei „ain unfriedlicher, verworner und arcklistiger knecht“, man wolle in „gueter rue“ bleiben.

Wer in München fehlt, ist in Innsbruck dabei: Schöne Dame, Narr, Spielmann und Publikum. Der König hat seine Gemahlin zur Preisrichterin ernannt - auf sein Zeichen hin hält sie den verlockenden Apfel als Siegespreis bereit.

Mohr, Bauer, lockiger Jüngling - manche Moriskentypen treten in München und auch in Innsbruck auf. Gaben die Figuren Grassers das Vorbild? Es ist nicht auszuschließen, doch sind die Tänzer am Goldenen Dachl noch wilder verrenkt, ihre Gesichter extremer verzerrt.

Der Moriskentanz am Goldene Dachl entstand rund fünfzehn Jahre nach den Münchner Tanzfiguren. Erasmus Grasser arbeitete um diese Zeit in Schwaz, nicht weit von Innsbruck entfernt. Doch den königlichen Auftrag erhielt ein einheimischer Künstler. Vielleicht reichte Grassers Ruhm nicht bis an Maximilians Hof.

Vielleicht gaben die Münchner Morisken das Vorbild für das Innsbrucker Bildwerk. Der spätere Kaiser, der häufig in München zu Besuch war, muss die Figuren im Tanzhaus dort gekannt haben. Im Jahr 1489 wurde in München zu Ehren Maximilians ein großer Ball gegeben - und dabei „zum tantz (ge)pfiffen“.

Von seinem Balkon aus wohnte der edle Gast dem Schauspiel in gebührender Höhe bei. Und doch hielt er sich ständig inmitten seiner Moriskentänzer auf: An der Brüstung des Balkons ist der Monarch dauerhafter Teil der Tanzgesellschaft - portraitecht in Sandstein gemeißelt, in doppelter Gestalt.

Die Mächtigen umgaben sich immer schon gern mit Kreativen. Im Münchner Tanzhaus hinter verschlossenen Türen, andernorts in aller Öffentlichkeit. Wenn König Maximilian I. in Innsbruck weilte, ließ er Turniere austragen und Morisken tanzen - auf dem Stadtplatz vor seiner Residenz.

Zu Beginn der Neuzeit galten für die Kunst neue Regeln. Wie zuvor diente sie Politik, Kirche und Gesellschaft. Doch jetzt durften Kunstwerke auch bloß gefallen. Kenner und Sammler aus allen Ständen begeisterten sich für Qualität, Virtuosität und Originalität.

Ob weltliche oder sakrale Kunst: Figuren der Kleinplastik genossen den größten Freiraum. Aus Bronze geformte Narren bevölkerten fürstliche Kronleuchter, geschnitzte Moriskentänzer zierten frommes Kirchengestühl.

Im Spätmittelalter gerät die Welt in Bewegung. An Uhren und Automaten drehen sich Figuren im Kreis oder führen ganze Szenen auf. Die Münchner Morisken sind wie im Tanz erstarrt, fest auf ihre Podeste gebannt. Doch wirkt es, als tanzten sie jederzeit weiter.

Trotz seiner führenden Stellung in Altbayern - nicht immer musste es Grasser sein. Als Herzog Sigismund um 1490 die Schlosskirche Blutenburg stiftete, kamen andere Münchner Künstler zum Zug. Zwölf Apostelfiguren eines anonymen Meisters und Altarbilder von Jan Polack zeugen vom hohen Niveau der Kunstszene in München und Bayern in dieser Zeit.

Grasser war gefragt, wenn anspruchsvolle Aufgaben nach originellen Lösungen verlangten. Mit dem Wandepitaph für den Münchner Dekan Dr. Ulrich Aresinger in St. Peter gelang es ihm, ein geistvolles theologisches Programm in anschauliche Bilder zu formen. Dabei half Grasser sein Verständnis von zeitgenössischer Druckgrafik, die er zuweilen in Bildhauerkunst übersetzte.

Erasmus Grasser beschäftigte in seiner Werkstatt keine Maler. Waren bei großen Altären auch Tafelbilder gefordert, kooperierte er mit einheimischen Meistern wie Jan Polack. Ob Bildhauer oder Maler - wer die künstlerische Leitung in solchen Arbeitsgemeinschaften hatte, ist nicht bekannt.

Künstlerische Ökonomie zahlte sich schon damals aus. Bei Großaufträgen bewies die Grasser-Werkstatt hohe Leistungskraft. Ob Altarwerke und Chorgestühl: Grasser und Gesellen schnitzen Evangelisten und Propheten in kurzer Zeit und großer Zahl. Häufig standen dazu die Moriskentänzer Modell.

Erasmus Grasser sicherte sich die interessantesten Aufträge im altbayerischen Raum. Virtuos verwandelte er Lindenholz in Figuren mit Charakter, Gemüt und Temperament. Dennoch sind es sind Typen - Vorbilder für Schergen und Propheten sind häufig die eigenen Moriskentänzer.

Im 15. Jahrhundert blüht die Volksfrömmigkeit. Wallfahrten versprechen wundersame Heilung. Zahlungskräftige Gläubige erkaufen Ablass von ihren Sünden. Der große Bedarf an Schnitzaltären, Heiligenfiguren und Grabmälern beschert auch bayerischen Malern und Bildhauern reiche Aufträge.

Kunstvolle Fremdenfeindlichkeit? Nicht auszuschließen. Doch „Pharisäer“, „Scherge“ oder „Prophet“ verkörperten allgemeine Wesenstypen, keine modernen Stereotypen. Heilige konnten auch dunkelhäutig sein: König Kaspar und Märtyrer Mauritius standen für den „edlen Mohren“.

Im 15. Jahrhundert tritt fremdländisches Volk auch auf bayerischen Altären auf. Turban tragende Pharisäer verspotten den dornengekrönten Jesus, phantastisch gekleidete Schergen geisseln mit sadistischer Lust. Es scheint, das fromme Publikum verlangte nach Spektakel - ebenso in Leid wie Grausamkeit.

Fürsten herrschen international, Kaufleute handeln global. Und auch die Kunst greift im späten Mittelalter über die Grenzen Europas hinaus. Ob im Edlen, Weisen oder Bösen: Der Orient ist das Ideal, das abendländischen Künstlern ein reiches Repertoire zur Bebilderung religiöser und weltlicher Themen bietet.

Die neuen Abbilder von Heiligen, Fürsten oder Bürgerlichen besitzen unerhörte Präsenz. Dies entspricht dem gewandelten Zugang ihres Publikums zu weltlicher und geistiger Realität. Unabhängig vom Grad seiner Bildung schätzte es die neue Bildrhetorik. Ob zu Andacht, Repräsentation oder Unterhaltung: Das Kunstwerk sollte ebenso geistig erfassbar wie emotional erfahrbar sein.

Der burgundische Hof war im 15. Jahrhundert tonangebend in Etikette und Mode. Für Höflinge war der modisch gespreizte Schritt vielleicht nur ein Trend. Malern und Bildhauern boten sich dagegen ungeahnte Mittel: Aus dem „verschränkten Stand“ heraus schraubt sich die moderne Skulptur um ihre eigene Achse. Körper aus Holz oder Stein scheinen jetzt plötzlich zu leben.

Vielleicht hatte Erasmus Grasser in seiner Gesellenzeit den Nördlinger Altar des berühmten Niederländers studiert. An der neuartig bewegten Skulptur kam der Nachwuchs nicht vorbei. Auch bayerische Heilige und Propheten übten sich nun im „burgundischen Schreiten: Das linke Bein gestreckt, den Fuß rechtwinklig vor das rechte Bein gestellt.

Der Bildhauer Nikolaus Gerhaert von Leiden (um 1430 bis 1473) inspirierte auf seiner Wanderschaft Künstler in ganz Europa. Neuartig räumlich, unnachahmlich elegant, dabei dramatisch bewegt : Seine Skulptur ergriff die Zeitgenossen ganz unmittelbar.

Grassers Vorgänger und Zeitgenossen hatten viel erreicht: Michel Erhart aus Ulm schuf Madonnen von höchstem Geist und Eleganz. Veit Stoß aus Nürnberg war Meister des innerlichen Dramas. Der Salzburger Michael Pacher verband Malerei und Schnitzkunst auf höchstem Niveau.

Die neue Wirklichkeit erfasst die Kunst in ganz Europa. Die Renaissance Italiens schult sich an der realitätsliebenden Antike. Auch mitteleuropäische Künstler bilden Personen und ihre Umwelt detailgetreu ab - und doch scheinen spätgotische Bildwerke stets bemüht, ihre Geistigkeit zu beweisen.

Malerei und Schnitzkunst eroberen im 15. Jahrhundert die würdigsten Orte und lösen die Architektur als Leitkunst ab. Moderne Hallenkirchen bilden den Schrein für kostbare Bildkunst. Heerscharen von heiligen Gestalten und Herrschern bevölkern Grabmäler und Schnitzaltäre, deren üppiges Rankwerk in lichte Gewölbe emporrankt.

Geld allein bedeutet nicht Glück: Hohe Investitionen in profane und sakrale Kunst sollen Status und Seelenheil der wohlhabenden Kundschaft sichern. Ob fromme Geistigkeit oder dramatisches Gefühl - in der Darstellung ist jetzt menschliche Nähe gefragt, weniger entrückte Jenseitigkeit. Heilige tragen Bürgergesichter, Grabskulpturen sind realistische Totenportraits.

Als Grasser seine Karriere beginnt, sind Gesellschaft und Kunst im Aufbruch. In Deutschland profitieren Künstler von der Konkurrenz rivalisierender Bischöfe und Fürsten. Als dritte Kraft tritt das aufstrebende Großbürgertum hinzu. Die neuen Reichen dominieren die damaligen Zukunftsbranchen Bergbau, Fernhandel und Bankwesen. Ihre Handelsimperien sind weltumspannend.

In einer Urkunde von 1507 wird Grasser erstmals als “paumeister” bezeichnet. Schon früher bewies er sich als Architekt von Rang: Seit 1487 plante er den Neubau des Benediktinerklosters von St. Gallen in Rorschach. 1490 erweiterte er die Kirche der reichen Silberbergwerksstadt Schwaz in Tirol. Bis zu seinem Tod leitete er die Sanierung der Saline Reichenhall, eine der wichtigsten Einnahmequellen der bayerischen Herzöge.

Um 1473 war seine Wanderzeit beendet. Nur zwei Jahre später erhielt er den prestigeträchtigsten Auftrag, den die Stadt München zu vergeben hatte: das Bildprogramm für das Münchner Tanzhaus (1478 bis 1480). Er löste die anspruchsvolle Aufgabe souverän. Stadt, Klerus und Adel schätzten ihn seither als Spezialist für das Neuartige, Schwierige und Ausgefallene.

Über seine Ausbildung wissen wir wenig. Ging er zur Lehre nach Regensburg? An der Dombauhütte könnte er neben Skulptur auch Baukunst und Mechanik erlernt haben. Ähnlich wie sein Zeitgenosse Leonardo da Vinci war Erasmus Grasser ein Multitalent: Bildhauer, Architekt, Ingenieur und Maschinenkonstrukteur in einer Person.

Nicht nur Grassers Arbeiten, auch seine Preise waren überregionale Spitze. So betrug das Honorar für die ursprünglich 16 Münchner Moriskentänzer 150 Pfund - dies entsprach damals dem Gegenwert von 50 Kühen oder 1042 Schafen.

Der Widerstand der Münchner Zunftkollegen war vergeblich: 1477 erhielt Erasmus Grasser den Meistertitel. Mehrfach wurde er als Zunftvorsteher gewählt. 1490 zählte er als einziger Künstler zu den 30 wohlhabendsten Bürgern Münchens. Ab 1512 gehörte er dem Äußeren Rat an. Es war das höchste politische Amt, das ein Mitglied einer Handwerkszunft erreichen konnte.

Wer war der geniale Ruhestörer? Wenig ist überliefert: geboren wohl um 1450 im Marktflecken Schmidmühlen in der Oberpfalz, gestorben 1518 in München. Über seine Eltern wissen wir nichts. Um das Jahr 1477 heiratete er Dorothea Kaltenprunnerin aus vermögendem Haus. Möglicherweise waren der Maler Hans und ein gewisser Stephan Grasser seine Söhne.

Und wirklich: Grasser trat in der bayerischen Metropole bemerkenswert selbstbewusst auf. Er begehrte beim Rat nicht nur die Anerkennung als Zunftmeister, sondern auch die Befreiung von Steuer und Wachtgeld - ein Privileg für hervorragende Künstler. Das Zunft-Establishment sorgte sich um seine führende Stellung - wie sich zeigen sollte, zu Recht.

Sein Charakter war wohl umstritten, sein fachliches Können nicht: Selbst die feindseligen Münchner Zunftmeister mussten in ihrer Klage anerkennen, dass ihnen mit dem jungen Talent ein zumindest gleichrangiger Künstler gegenüberstand: „... Und wir doch wol lewt under uns haben, dy von pillden und massen zwvoran alls vil wissen als er (...)“.

Münchner Kunstskandal anno 1475: Die Zunft St. Lukas für Maler, Schnitzer, Seidennäher und Glaser wendet sich mit einer Petition an den Rat der Stadt, um dem zugezogenen Bildhauer-Gesellen Erasmus Grasser die Aufnahme in ihren exklusiven Kreis zu verweigern - er sei „ain unfriedlicher, verworner und arcklistiger knecht“, man wolle in „gueter rue“ bleiben.

Das zwiespältige Verhältnis des christlichen Mittelalters zum Islam spiegelte sich in der Kunst. Propheten mit Turbanen, Priester mit bizarren Mützen, Könige mit Kamelen und dunkelhäutige Magier - eine bunte Karawane zieht über Altarbilder und profanes Bildwerk. Edle ”Mohren” (von lat. Maurus = Nordafrikaner) und Könige stehen dabei neben dunkelhäutigen Schergen und verschlagenen Turbanträgern. Die Heiligen Drei Könige vertraten aus abendländischer Sicht die positive Seite der orientalischen Hochkultur - die für ihren sagenhaften Reichtum und den verfeinerten Lebensstil bewundert wurde. Caspar, Melchior und Balthasar galten als Magier, Sternendeuter oder sogar Philosophen. Manchmal sah man ihnen auch die Vertreter der drei damals bekannten Erdteile (Asien, Europa, Afrika) oder der drei Lebensalter. Mit ihren exotischen Geschenken deuteten sie die künftige Bestimmung Christi voraus: Königtum (Gold), Gottheit (Weihrauch) und Passionsopfer (Myrrhen). Meistens erscheinen die Heiligen in orientalischer Kleidung. König Caspar ist in der Regel als Mohr dargestellt. Die beiden anderen Könige haben dagegen meistens ein europäisches Antlitz. Im Spätmittelalter erhalten sie häufig ein exotisches Gefolge mit Mohren, Kamelen, Affen und Hunden. Damit macht sich das inzwischen überwiegend negative Bild des islamischen Orients bemerkbar: Affen standen für die Verleugnung der göttlichen Schöpfung und Wahrheit, sie waren ein Sinnbild des Teufels und der Lasterhaftigkeit. Hunde waren nicht grudsätzlich negativ besetzt. Weiße Hunde standen für Glauben und Treue, struppige Hunde für Unglauben. Affen und Hunde begleiten häufig auch Moriskentänzer, etwa am Goldenen Dachl in Innsbruck. Ein zweiter dunkelhäutiger Heiliger ist Mauritius, ein christlicher ägyptischer Märtyrer. Aus seinem Namen (lat. "Maurus" heißt "Nordafrikaner") leitet sich das mittelalterliche deutsche Wort "Mohr" ab. Als Schutzpatron Burgunds wurde Mauritius besonders häufig in der burgundisch geprägten Kunst des Spätmittelalters abgebildet. Als Reichspatron der Salierkaiser und als Ritterheiliger war Mauritius auch im deutschen Raum populär.

Das Bild, das sich der Westen vom “Orient” machte, bekam im Lauf der Geschichte mehrere Brüche. Im frühen Mittalalter waren arabische Muslime Träger der überlegenen Kultur. Sie bewahrten die antiken Wissenschaften, entwickelten sie fort und vermittelten ihr Wissen an das christliche Europa. Seit 756 errichteten umajjadische Fürsten in Spanien einen blühenden arabisch-islamischen Staat. Über 300 Jahre lebten dort Mauren, Christen und Juden friedlich zusammen. Eine hoch entwickelte Mischkultur entstand. In Córdoba konnten christliche Gelehrte griechische Philosophie, arabische Medizin, Astronomie und andere Wissenschafte und Künste studieren. Papst Sylvester II (999-1003) verwendete als erster abendländischer Gelehrter die arabischen Ziffern. Der Stauferkaiser Friedrich II lud um 1240 arabische Gelehrte an seinen Hof in Süditalien, und ließ sich in Naturwissenschaften unterrichten. Italienische Kaufleute aus Venedig, Genua, Pisa und weitere Stadtrepubliken trieben lebhaften Handel mit der arabischen Welt. Über die Alpen kamen Gewürze, Textilien, Färbemittel und andere exotische Waren nach Bayern und weiter nach Mittel- und Nordeuropa. Mit Beginn der Kreuzzüge ins Heilige Land und der christlichen Rückeroberung Spaniens verschärfte sich das Verhältnis zur muslimischen Welt. Gleichzeitig förderte die kriegerische Expansion aber die Verbreitung von orientalischen Gütern und der reichen hispano-arabischen Kultur. Spanische Christen siedelten in benachbarten Länder und importierten ihre christlich-maurische Mischkultur. Jakobspilger aus ganz Europa deckten sich in Nordspanien mit arabischen Waren ein. Kreuzfahrer kehrten beladen mit orientalischen Gütern in ihre Heimat zurück. Die Kreuzzüge brachten zwar keinen dauerhaften Erfolg. Durch die militärischen Erfolge in Spanien überwand das christliche Europa aber sein früheres Minderwertigkeitsgefühl gegenüber der islamischen Zivilisation. Es festigte die Überzeugung seiner religiösen, intellektuellen und militärischen Überlegenheit. Die islamische Welt faszinierte das Abendland zwar weiterhin, jedoch weniger durch Hochkultur und Wissenschaft, sondern mehr durch sagenhaft exotisch-erotische Reize. Es erblickte im Orient das fremdartige Gegenbild, das eine ebenso verlockende wie bedrohliche Gestalt annehmen konnte. Höfische Kreise orientierten sich am verfeinerten arabischen Lebensstil. Gleichzeitig verdammten christliche Theologen den Islam als Religion der hemmungslosen Genusssucht und der Gewalt. Mohammed sei der Antichrist, er habe die Wahrheit bewußt verkehrt. Gerade der Geschmack des Verbotenen, so scheint es, ließ alles Orientalische aber umso attraktiver erscheinen.

Der frühere „Neuhof“ wurde unter Herzog Friedrich IV. im frühen 15. Jahrhundert errichtet. Maximilian I. ließ den ursprünglichen Erker des Gebäudes in den Jahren 1494-1496 durch den Innsbrucker Baumeister Nikolaus Türing den Älteren zu seiner Hofloge umbauen. Von hier aus konnte er Turniere und Schauspiele betrachten, die am Platz davor veranstaltetet wurden. Die zweigeschossige Loge ist mit vergoldeten Kupferschindeln geschmückt - das „Goldene Dachl“. Unter dem Dachrand verläuft ein Fries mit Fabelwesen und einheimischen Tieren - vielleicht ein Hinweis auf die Jagdleidenschaft Maximilians. Die Logenbrüstung ist mit acht Relieffeldern geschmückt - zu sehen ist ein kompletter Moriskentanz: Der König, gleich in doppelter Ausführung, seine erste und seine zweite Gemahlin, ein Hofnarr und ein Bürger. Dazu, in sechs Paaren, elf Tänzer und ein Spielmann. Mit derben Grimassen und verrenkten Gliedern toben die Moriskentänzer um die edle Hofgesellschaft herum. Alles ist hier wilder und extremer als beim Münchner Moriskentanz. Doch damit nicht genug - das Innsbrucker Treiben ist regelrecht obszön: Erotische Kleidung und zweideutige Gesten der Tänzer lassen keinen Zweifel über die wahren Zweck des Treibens zu. Maximilian zeigt sich außerlich ungerührt. Gemeinsam mit seiner verstorbenen ersten Frau, Maria von Maria von Burgund, und mit seiner zweiten Gemahlin, Bianca Maria Sforza, wohnt er dem Geschehen bei. Maximilian deutet auf den Apfel in Biancas rechter Hand. Er weist ihr damit die Rolle als Preisrichterin zu. Eine zweifelhafte Ehre für die Königin, denn sie muss den Preis an den besten Moriskentänzer übergeben. Ein Narr sitzt in der Loge des Königs, daneben ein Höfling oder Kaufmann. Er wendet sich an Maximilian - vielleicht nutzt er die Gelegenheit, um dem König ein wichtiges Anliegen zu unterbreiten. Eine Etage tiefer sind acht Wappen angebracht. Sie demonstrieren Macht und Anspruch des Königs, der damals nach der Kaiserwürde strebte: darunter in einer Reihe der deutsche Königsadler, der kaiserliche Doppeladler, die Wappen von Burgund und der Familie Sforza.

Innsbruck war die bevorzugte Residenz des deutschen Königs Maximilian I. (1459-1519, König seit 1486, Römischer Kaiser seit 1508). Seit 1493 war er auch Landesherr von Tirol. Das an Bodenschätzen reiche Land war für eine "eine Geldbörse, in die man nie umsonst greift“. Maximilian betrieb eine kostspieliege Großmachtpolitik und eine entsprechende Hofhaltung. Dies zwang ihn, Bergwerke und andere tiroler Besitzungen an wohlhabende Handelsfamilien zu verpfänden - vor allem die Augsburger Fugger erlangten dadurch große Macht und Einfluss auf die kaiserliche Politik. Innsbruck war zu Maximilians Zeit eine bedeutende Handelsstadt mit rund 5.000 Einwohnern Wein, Südfrüchte, kostbare Stoffe und andere orientalische Waren wurden auf ihrem Weg aus Italien nach Norden über die Stadt am Inn transportiert. Innsbruck hatte noch mehr zu bieten: Es besaß eine leistungsfähige Rüstungsschmiede und eines der größten Waffendepots. Und es entwickelte sich zu einem Zentrum der Kunst - Albrecht Dürer, Peter Fischer und andere erhielten von den Habsburgern bedeutende Aufträge. Unter Maximilian erhielt die Stadt eine neue Gestalt. Zahlreiche prächtige Neubauten entstanden während seiner Regierungszeit.

Erasmus Grasser war nicht nur ein angesehener Künstler, sondern auch ein erfolgreicher Unternehmer. Er scheint ein Großatelier geführt zu haben. Nur ein Werk, der Aresinger-Epitaph in St. Peter, ist von seiner Hand signiert. Nur für wenige Bildwerke ist Grassers Urheberschaft durch Quellen belegt. Zahlreiche Skulpturen, früher als Werke Grassers bekannt, gelten heute wieder als ungeklärt. Trotz Fortschritten der Forschung zu historischem Material und Arbeitstechnik lassen sich anonyme Werke kaum mit Sicherheit bestimmten Künstlern zuschreiben. Ebenso ist meistens unbekannt, welche Werkteile jeweils der leitende Meister und welche seine Gesellen herstellten. Manche Erzeugnisse einer Werkstatt überragen andere durch originelle Bildideen, außergewöhnlichen Ausdruck oder virtuose Technik. Es spricht daher viel für die Annahme, dass Erasmus Grasser den Figuren der Moriskentänzern besonders große Aufmerksamkeit gewidmet hat. Dagegen waren die mehr als 170 bildlichen Teile des Chorgestühls der Münchner Frauenkirche sehr wahrscheinlich überwiegend Werkstattarbeit. Dafür spricht neben der enormen Anzahl der Bildwerke auch ihre serielle Ähnlichkeit. Ähnliches gilt für die Malerwerkstatt Jan Polacks: Trotz der großen Anzahl der ihm zugeschriebenen Werke ist der Meister selbst weder als Person noch als Künstler näher fassbar. Typisch ist an seiner Kunst gerade die starke Typisierung von Motiven und Personen. Die Polack-Werkstatt ist wahrscheinlich das eindrucksvollste Beispiel eines durchorganisierten Kunstbetriebes, der dank rationeller Arbeitsweise in der Lage war, in kurzer Zeit Werke in gehobene Qualtät und zu niedrigen Preisen zu liefern.

In München herrschte um 1500 eine starke Künstler-Konkurrenz. 1515 waren in die Zunftliste drei Maler-Bildschnitzer und vier Bildschnitzer eingetragen. Die Zunftordnung beschränkte die Mitarbeiterzahl in den Meisterateliers, um die Entstehung von marktbeherrschenden Großbetrieben zu verhindern. Um große Aufträge bewältigen zu können, durfte ausnahmsweise vorübergehend mehr als ein Geselle beschäftigt werden. Es scheint jedoch, dass sich die führenden Meister diese Regel dauerhaft zunutze machten, denn seit etwa 1480 wurden in München immer mehr und immer größere Werke bestellt. In der Regel waren Künstler auf Malerei oder Bildhauerei spezialisiert. Waren nicht genügend Gesellen verfügbar, schlossen sich Werkstätten auch zu Arbeitsgemeinschaften zusammen. Solche Bündniss waren aus praktischer Praxis Notwendigkeit. Günstig war der Umstand, dass die verschiedenen Kunstdisziplinen auf der gleichen Welle lagen. Grafik, Malerei und Skulptur verwendeten ähnliche Motive, bedienten sich einer ähnlichen Bildrhetorik und arbeiteten nach übertragbaren Gestaltungsprinzipien. Die Bildhauerwerkstatt des „Blutenburger Meisters“ schuf zusammen mit dem Malerbetrieb von Polack den Weihenstephaner Hochaltar. Parallel dazu stellten sie die Ausstattung der Schlosskirche Blutenburg her. Grassers und Polacks Werkstatt bildeten ein besonders erfolgreiches Gespann. Sie teilten sich die Aufträge für den groß dimensionierten Hochaltar von St. Peter und für Teile der Ausstattung von St. Wolfgang in Pipping. Gleichzeitig arbeiteten beide Werkstätten in Schliersee und Ilmmünster.

Nikolaus Gerhaerdt van Leyden (um 1430-1473) machte die hoch entwickelte flämische Kunst auch in Süddeutschland populär. Er schuf den Hochaltar für die St. Georgskirche in Nördlingen (um 1462). Seine dramatisch bewegten und verdrehten Figuren besaßen eine bislang nie erreichte leibliche Präsenz. Gerhaerts Prinzip der “verschränkten Bewegung” beeindruckte zahlreiche bayerische Bildhauer. Die Skulptur begann überall, sich von ihrer Bindung an Nischen und Säulen zu lösen und ein räumliches Eigenleben zu entwickeln. Künstler der jüngeren Generation übernahmen das Gerhaertsche Raum- und Bewegungsprinzip und entwickelten es in verschiedene Richtungen weiter. Um 1500 hatte sich im süddeutschen Raum eine große Vielfalt skulpturaler Ausdrucksformen ausgebildet. Bildhauer wie Michael Erhart (seit 1469 in Ulm) verfeinerten das neue Bildprinzip noch weiter. Der Würzburger Tilman Riemenschneider (um 1460-1531) entwickelte einen spezifisch bürgerlichen Realismus, verbunden mit religiöser Innerlichkeit. Veit Stoß (um 1448-1533) steigerte in seinen Nürnberger und Krakauer Werken die Dramatik des Ausdrucks und der Bewegung ins Extrem. Der Salzburger Maler und Bildschnitzer Michael Pacher (um 1435-1498) ließ in sein Werk eine realistisch-humanistische Auffassung einfließen, die von italienischer Renaissancekunst beeinflusst war. Erasmus Grasser (um 1450-1518) war Spezialist für lebhafte Handlung, markante Typen und drastischen Gefühlsausdruck.

Die bayerische Kunst des Spätmittelalters bewegte sich international auf hohem Niveau. Architekten, Maler und Bildhauer nahmen im 14. und 15. Jahrhundert Errungenschaften der Bauhütte Peter Parlers und der Hofkunst Kaiser Karls IV. in Prag, der flämisch-burgundischen Malerei und der italienischen Renaissance auf und verbanden sie mit einheimischer Tradition. Jörg von Halspach führte die spätgotische Kirchenbaukunst in Bayern dem Höhepunkt zu. Der mächtige Bau der Münchner Frauenkirche kündet von einem Anspruch, der weit über Bayern hinausreichte. Selbstbewußt blickt das Kopfportrait des Architekten von der Innenwand. Die Inschrift verkündet stolz, dass er “mit der hilff gotz vnd seiner hant de erste de mitl vnd lostn stain hat volfuert an diesem pau.” Besonders hoch war die süddeutsche Bildhauerkunst der Spätgotik entwickelt. Der Ulmer Hans Multscher (1410-1467) wandte sich ab vom höfisch-weichen Stil des frühen 15. Jahrhunderts und entwickelte einen realistisch-lebensnahen Ausdruck, geprägt von bürgerlichem Empfinden. Das aufstrebende Bürgertum hatte das Bedürfnis, seine eigene Alltagswirklichkeit im Zusammenhang mit seiner Religion zu sehen. Die bisher ritterlichen Heiligen werden zunehmend bürgerlich.

Bis ins 13. Jahrhundert war Altbayern ein zerrissenes Gebilde - “ein Land ohne Städte und ohne Stadtkunst”. Kaiser Ludwig der Bayer (1314-1347) aus dem Haus Wittelsbach hatte für sein Stammland Großes im Sinn - den Aufstieg zur europäischen Macht. Der Kaiser förderte besonders München, denn “er hat große lieb zu der stadt gehabt”. Zahlreiche Stadtgründungen des 14. Jahrhunderts wie zum Beispiel Landshut, Straubing und Burghausen, belegen einen rasanten Aufschwung im ganzen Land. Träger des Booms war neben den Herzögen das zu neuem Wohlstand gekommene Stadtbürgertum. Wie in ganz Europa orientierte sich die neue Klasse in den bayerischen Städten an den verfeinerten Lebens- und Kunstformen der hohen Aristokratie und konkurrierte mit ihr im Mäzenatentum. Erstaunlich ist die Breite der Schichten, die jetzt zu Kunst und zur Bildung drängten. Fast in jeder Kleinstadt, jedem Marktflecken finden sich eine Bildschnitzerfamilie und Künstler, deren Namen nicht mehr bekannt ist. Die Kunst der Spätgotik florierte. Kaufleute finanzierten riesige Kirchenbauten und kostbare Altarwerke und gaben private Andachtsbilder in Auftrag. Die bayerischen Herzöge strebten nach europäischer Geltung. Albrecht IV. (1447-1508) nahm sich die reichen Fürsten Italiens und Burgunds zum Vorbild - die tonangebenden europäischen Eliten für Kunst und Hofkultur der frühen Neuzeit. Die hohen Ansprüche verlangten nach einemwürdigen Rahmen. Die Wittelsbacher verbanden sich dafür mit der Bürgerschaft ihrer Residenzstadt. Gemeinsam finanzierten sie den Neubau der Münchner Frauenkirche, das bis dahin größte Bauvorhaben der Stadt. In nur zwanzig Jahren (1468-1488) war die moderne Hallenkirche bis zum Glockengeschoss der Türme fertiggestellt. Der Innenraum bot reichlich Platz – sowohl für zahlreiche Zunftkapellen wie für das monumentale Grabmal Kaiser Ludwigs des Bayern. Gleichzeitig entstand ein zweites Prestigeprojekt: der Neubau des Münchner Rathauses mit dem Tanzhaus, das Bürger und Herzöge gemeinsam nutzten (1470-1478). Beide Prachtbauten entwarf der städtische Baumeister Jörg von Halspach (gest. 1488).

Jan Polack und Erasmus Grasser verband eine Auffassung, die sich nicht nur in München schnell durchsetzte. Beide Künstler verlegten sich auf starken Ausdruck der Figuren und auf klare Handlung. Die wirklichkeitsgetreue Behandlung der Anatomie, der Ausstattung und des Raumes trat dagegen in den Hintergrund. Von allen Münchner Malern seiner Zeit wusste Jan Polack (dort tätig zwischen 1480 und 1519) die Wünsche seiner Auftraggeber wohl am besten zu erfüllen. Er verband lebhafte Schilderung und drastischen Ausdruck mit attraktiver Farbigkeit. Die Bildtafeln der monumentalen Altarretabeln, ob in der Franziskaner- oder in der Peterskirche, waren auf Fernwirkung kalkuliert. Die theologische Botschaft stand im Vordergrund, vermittelt durch emotionale Bildrhetorik. Passions- und Märtyrergeschichten werden mit Akribie geschildert, karikaturhaft grimassierende Schergen verrichten ihr Werk mit sadistischer Freude. Der Bildhauer Erasmus Grasser (in München etwa von 1450 bis 1518) war Polacks kongenialer Partner. Um Großaufträge, bei den sowohl Malerei und Skulptur gefordert waren, arbeiteten die beiden scheinbar seelenverwandten Meister wiederholt zusammen - zum Beispiel beim ehemaligen Hochaltar von St. Peter. Ähnlich wie Polack bildete auch Grasser einprägsame Markenzeichen aus. Im scharfen Konkurrenzkampf der damaligen Zeit war dies eine erfolgsversprechende Vermarktungsstrategie. Grassers Figuren beeindrucken häufig durch lebhaft bewegte Locken oder fliegende Gewandteile. Sie greifen mit Gliedmaßen weit in den Raum und gestikulieren mit den Händen. Besonders auffällig die Gesichtstypen: Große Nasen, ausgeprägte Nasen-Mund-Falten, kräftige- Kinn und Backenknochen lassen viele Figuren mit hoher Wahrscheinlichkeit der Grasser-Werkstatt zuordnen.

Die Kunst boomte in München im ausgehenden 15. Jahrhundert. Die riesige Frauenkirche, dreizehn kleinere Kirchen, ein neues Rathaus mit angeschlossenem Tanzhaus, zwei neue Schlösser - dies war der von weitem sichtbare Ausdruck der ambitionierten Kunstpolitik der Herzogbrüder Albrecht IV. und Sigismund sowie der Kunstförderung durch das aufstrebende Bürgertum. In kurzer Zeit sorgten Maler und Bildhauer Altarwerke für prachtvolle Innenausstattungen - Vielflügelige Altäre mit mehreren Reihen von Bildtafeln und Heiligenfiguren, ein Chorgestühl mit Heerscharen von Propheten, Zunftkapellen und private Andachtsbilder. Die Werkstätten der Münchner Meister waren voll ausgelastet. Um den Bedarf zu decken, wurden auch Künstler aus der Umgebung und aus der Ferne geholt. Einen der bedeutendsten Aufträge stellte ein auswärtiger Bildhauer her, die Deckplatte für das Kaisergrabmal Ludwigs des Bayern in der neuen Frauenkirche. Und auch ältere Werke kamen wieder zu Ehren: Gabriel Anglers Flügelaltar von 1437, noch Jahrzehnte später hoch geschätzt, wurde in die Frauenkirche überführt. Zur Jahrhundertmitte stand die Münchner Kunst auf gehobenem Niveau, doch ihre Ausstrahlung war regional begrenzt. Der einheimische Maler Gabriel Angler war eine Ausnahme, in seinen Bildern sind italienische Einflüsse erkennbar. Gabriel Mäleßkirchner, der führende Münchner Maler in der Zeit etwa von 1460 bis 1480, pflegte einen dekorativen Stil mit Liebe zum Detail. Ähnlich das Bild in der Skulptur: Der anonyme „Blutenburger Meister“ scheint älteren Künstlern wie Michael Erhart verpflichtet gewesen zu sein. Er schnitzte handwerklich perfekt. Doch bei aller Eleganz wirken seine Figuren ein wenig blass und ausdrucklos. Modern wollte man aber damals auch in München sein. Es waren zwei Zuzügler, die frischen Wind in die Münchner Kunstwelt brachten: Der Maler Jan Polack, vielleicht aus Polen stammend, und der Bildhauer Erasmus Grasser aus der Oberpfalz.

Erasmus Grasser wurde für 16 Moriskentanz-Figuren entlohnt, nur zehn sind erhalten. Wen könnten die übrigen dargestellt haben und wo haben sie gestanden? Zu dieser Frage gibt es nur wenige Anhaltspunkte und viele Vermutungen. Eine Eisenradierung von Nikolaus Solis aus dem Jahr 1568 zeigt die Hochzeit Wilhelms V. im Münchner Tanzhaus. Das Blatt ist die älteste erhaltene Ansicht des Innenraumes - rund neunzig Jahre nach seiner Fertigstellung. Das Blatt zeigt Moriskentänzer, die zu beiden Seiten des Tanzsaals vor flachen Wandnischen balancierten. Zwischen ihnen zog sich der Fries der Reichswappen über beide Längswände. Über den Tänzern stiegen verzierte Holzgrate auf und überzogen kreuzförmig das Gewölbe. Daran waren Wappen angebracht. Auf diese Weise bündelte sich in den zehn Nischen die größte Spannung des Raumgefüges. Genau inmitten dieses Kraftfelds tanzten die zehn Figuren. [Abb. Foto (JMM S.75), vor 1943: Längswand mit Gewölbeansatz, mit 1 Nische+Moriskentänzer, Wappenfries und geschnitzte Holzgrate] Es gibt nur zehn Wandnischen. Mehr Orte dieser Art und dieser Bedeutung hat es im Tanzsaal wohl nie gegeben. Wo standen ursprünglich die sechs übrigen Figuren? Auf dem Hochzeitsbild sind Teile der Ausstattung gut erkennbar. Doch interessanter ist, was das Bild verbirgt: Nur vier Tänzer sind zu sehen. Zwei Nischen wirken leer. Hatte man die Figuren dort kurzzeitig entfernt? Vielleicht befanden sich weitere Skulpturen im unsichtbaren Teil des Raumes, zum Beispiel an der Eingangswand? Verhüllt sind auch drei große Radleuchter, hoch über den Köpfen der Festgesellschaft. Ihr Aussehen ist nicht bekannt. Waren dort, verborgen unter Tüchern, die verschwundenen Figuren angebracht?

Sonne, Mond und Planeten wurden in der Kunst von der Antike bis zur Neuzeit häufig als männliche oder weibliche Personen oder als Himmelskörper mit menschlichem Gesicht dargestellt. Sterne werden meist als kleine sternförmige, leuchtende Objekte in großer Zahl abgebildet und waren gemeinsam mit Sonne, Mond und den Planeten an die halbkugelförmige Himmelsglocke oder weitere konzentrische Sphären „geheftet“. Sonne und Mond galten in der Antike als Zeichen herrscherlicher Macht. In christlicher Kunst dienten sie später der Verherrlichung Christi, des himmlischen Herrschers. Häufig sind beide Gestirne auf Darstellungen der Kreuzigung zu sehen - der Mond zur Linken, die Sonne zur Rechten des Gekreuzigten. Die Sonne ist männlich (lat. sol) und wird meist als Brustbild oder als rundes Gesicht auf kreisrunder Scheibe dargestellt. Das Sonnengesicht trägt eine Strahlenkrone auf dem Kopf oder besitzt einen Kreis aus flammenden Strahlen. Der Mond ist weiblich (lat. luna) und kann als Frauenkopf mit einer Sichel im Haar erscheinen. Die am weitesten verbreitete Auffassung des Mondes war im Mittelalter die Verbindung von Sichel und Frauengesicht, häufig zu Füßen der Muttergottes als himmlischer Frau der Apokalypse. Hier gab es drei Varianten: die Mondsichel mit eingeschriebenem Gesicht, ein Gesicht, das in die Sichel hineinblickt und ein Gesicht, das aus der Sichel hinausblickt.

„Turban“: Orientalische Gestalten mit Turban treten in zeitgenössischer Skulptur und Malerei häufig im Zusammenhang mit den Heiligen Drei Königen auf - im Münchner Kunstumkreis gab dafür sogar manchmal der Münchner Moriskentänzer das direkte Vorbild ab. „Mohr“: Am Goldenen Dachl in Innsbruck ist einer der Moriskentänzer ebenfalls als Mohr dargestellt. Vereinzelt gibt es in der mittelalterlichen Kunst dunkelhäutige Schergen, häufiger aber verkörpern Mohren bestimmte heilige Gestalten, z. B. den hl. Mauritius und den hl. König Caspar. „Stulpenstiefel“: Abgesehen vom großen Turban trägt die Figur die zeitgenössische bäuerliche Arbeitskleidung. Die Stiefel sind stark zerschlissen. Eine modische Extravaganz stellt der Turban anstelle des damals üblichen großen Schlapphutes. Bildliche Darstellungen aus dem Mittelalter zeigen Bauern häufig barfuß und ohne Beinkleider. Verglichen damit ist der bäuerliche Moriskentänzer hochwertig gekleidet. „Jagdhut“: Jagdhutähnliche Kopfbedeckungen scheinen in der Mode des Spätmittelalters sehr verbreitet gewesen zu sein und sind häufig in bildlichen Darstellungen auf. „Perlenmütze“, „Löwenmütze“: Die phantasievoll gestalteten Kopfbedeckungen der beiden Tänzer erinnern ebenso wie ihr wilder Gesichtsausdruck an sadistische Schergen, die bei Heiligenmartyrien oder bei der Geißelung, Dornenkrönung oder Kreuzannagelung Christi auftreten.

Elegante und derbe Typen Morisken sind Karikaturen liebestoller Tänzer. Ihr ungehobeltes, oftmals obszönes Auftreten ist Programm. Verglichen mit anderen Darstellungen von Moriskentänzen, wie zum Beispiel am Goldenen Dachl in Innsbruck, benehmen sich die Münchner Figuren relativ gesittet. Dennoch gibt es Unterschiede. Einige bewegen sich elegant und würdevoll, andere sind derb und unbeholfen. In Tracht und Ausdrucksweise offenbaren manche Tänzer ihre Standeszugehörigkeit. In ihren Bewegungen führen sie zudem verschiedene Arten der moriskischen Tanzweise vor, die damals am burgundischen Hof gebräuchlich waren: den gesprungenen und den getretenen Tanz („Hautes et Basses Danses“). Im Münchner Ensemble verkörpert die Figur „Langmähniger“den Typ des elegant-vornehmen Tänzers bürgerlicher Herkunft. Die Figur „Stulpenstiefel“ steht dagegen für den derben und ärmlichen Bauern. Doch nicht alle Tänzer lassen sich eindeutig nach Charakter und Standeszugehörigkeit zuordnen. Die meisten Tänzer tragen sowohl elegante als auch derbe Züge. „Europäer“ und „Orientalen“ Einige der Münchner Moriskentänzern fallen durch betont exotische Aufmachung auf. Turban, Barttracht, dunkle Haut waren damals weit verbreitete orientalische Klischees. Hier scheint sich damit aber keine besondere Wertung zu verbinden: Die Figur „Turban“ übertrifft den „Jagdhut“ weit an Eleganz, der „Mohr“ wirkt nicht derber als die Figur „Agraffenmütze“. „Europäer“: „Langmähniger“, „Agraffenmütze“, „Frauenhut“, „Schildkappe“, „Jagdhut“, „Stulpenstiefel“ (trägt jedoch einen Turban) Orientalen“: „Turban“, „Mohr“, „Löwenmütze“, „Perlenmütze“ Figuren mit und ohne Bart Ob züngelnd zerzaust, elegant gestutzt oder einfältig gezwirbelt: Die Bärte der Tänzer unterstreichen den Charakter ihrer Träger. Sie können aber auch Ausweis ihrer Fremdheit oder ihrer modischen Inkompetenz sein - im späten 15. Jahrhundert waren in Mitteleuropa Bärte weitgehend aus der Mode. Ein weiterer Beweis, wie sich Moriskentänzer zum Narren machen konnten. Bartträger und Bartlose finden sich bei „eleganten“ wie „derben“ Typen sowie bei „Europäern“ wie „Orientalen“. Figuren mit Bart: „Stulpenstiefel“, „Jagdhut“, „Löwenmütze“, „Perlenmütze“ Figuren ihne Bart: „Turban“, „Mohr“, „Langmähniger“, „Agraffenmütze“, „Frauenhut“, „Schildkappe“

Wo sollten sie aufgestellt gewesen sein? Früher gab es eine Musikempore, doch sie trug keinen Figurenschmuck. Vielleicht waren einige Figuren auf großen Radleuchtern hoch über dem Tanzparkett angebracht.

Gab es ein künstliches Publikum im Tanzsaal, wer könnte dargestellt gewesen sein? Vielleicht das Herzogpaar, der Hofstaat, oder die Münchner Bürgerschaft.

Jeder Moriskentanz brauchte ein Publikum. Im Münchner Tanzhaus waren es die leibhaftigen Festgäste. Ob es dazu auch geschnitzte Zuschauerfiguren gab, ist nicht bekannt.

Die Preisrichterin stand im Zentrum des Tanzes. Mit ihr ist den Münchner Moriskentänzern das Ziel ihres Begehrens abhanden gekommen. Wie die schöne Dame aussah und wo sie einst stand, ist leider unbekannt.

Auch der Narr durfte bei Moriskentänzen nicht fehlen. Sicher gehörte auch er zum Münchner Moriskenensemble - im bunten Schellenkostüm, mit Eselskappe und Narrenszepter.

Ohne Spielmann gab es keinen Moriskentanz. Im Münchner Tanzhaus war er einst sicher dabei. Im Aussehen glichen die Spielleute meistens den Tänzern. Manchmal gab es auch musizierende Narren.

 

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